Auf dem Schlachtfeld


30.05.2015

 

Ein seltsamer Ort, Kalkriese. Die Geschichte ist schon so lange über diesen Ort hinweg gegangen, dass die Identifikation als Schlachtfeld überraschend und geradezu bestürzend war – man hatte sich in Deutschland damit abgefunden, die "Hermannsschlacht" als mythischen Ort zu belassen, halb im deutschen Märchen, wo Laurins Rosengarten und die Gralsburg liegen (aber auch die blutige Halle König Etzels im Nibelungenlied): ganz weit oben auf dem Olymp deutscher Dichter wie Heinrich v. Kleist, Dietrich Grabbe, Friedrich Klopstock, ganz weit unten in der Hölle deutscher Rassisten und Chauvinisten wie Richard Wagner, Felix Dahn, Gustav Freitag. Diese bipolare Verortung in der Sagenwelt legt die Hermannsschlacht nirgendwohin fest, aber auf jeden Fall auch nirgendwo dazwischen. Jahrhundertelang entdeckten Oberlehrer sie in ihren Kartoffelgärten, irgendwann wurde sogar eine unschuldige Hügelkette umbenannt und eine Riesenstatue aufgestellt, als das gerade Mode wurde (102 km vom eigentlichen Platz entfernt, aber landschaftlich deutlich schöner).

Und dann, unerwartet, die Wiederentdeckung der Realität eines Schlachtfelds: mit einer vollkommen überraschenden Wallanlage, erschütternden Funden wie den Knochengruben, den vielen, vielen Münzen und der Reitermaske, Zeugnisse eines erbitterten und so gar nicht wie in den Vorstellungen oder der Literatur besungenen Kampfes. Die Erkenntnis, dass es sich hierbei um die vielbesungene "Hermannsschlacht" handeln könnte, war so ein Schock, dass sie umbenannt werden musste: die "Varusschlacht" ist vermutlich die einzige ihrer Art, in welcher der Verlierer zum Namensgeber wird – gleichsam zur Entschuldigung für den Verrat und auch, weil "Hermann" in Deutschland keine erwünschte Person mehr ist. Die Übersetzung Arminius = Hermann stammt aus der frühen Neuzeit, in welcher der Begriff "Deutschland" mit religiösem und nationalem Wahn zu einer schicksalhaft dämlichen Überlegenheitsvision zusammengekocht wurde. Es ist kein Wunder, dass sich die heutige, planvolle Inszenierung von allen deutschnationalen Wurzeln seit der Wiederentdeckung von Tacitus’ „Germania“ lossagen will (sondern sie selber in die Museumsvitrine stopft).

So kommen wir an einen Ort der Erinnerung , der zuerst einmal überraschend klein ist – ein paar hundert Meter in der Länge, vielleicht hundert in der Breite – und dann überaus vollgestopft mit „Kunst“, rutschigen Eisenplatten, die den Weg der Legionen darstellen, rostigen Kabausen und Hütten mit merkwürdigen Geräten drauf (irgendwas mit „Sinnen“), einzig der „Geländeschnitt“ hat eine durch und durch erklärende Funktion: wie der Germanenwall nachgewiesen wurde, wo man was fand, wie sich was im Laufe der Jahrhunderte – der Jahrtausende – veränderte. Der nicht besonders große, aber hohe Aussichtsturm mit angeschlossenem Bau ist das Museum. Die Inszenierung des Erinnerungsortes verlangt viel Abstraktion und Reflektion vom Betrachter; vor allem die intensive künstlerische Prägung wird von vielen Besuchern auf den ersten Blick als abgefahrener, idiotischer Firlefanz angesehen, ein künstlerisch interessiertes und intellektuelles Publikum geht vielleicht offener an die prägenden „Installationen“ heran und vollzieht genau die gleiche Erkenntnis bei näherem Hinsehen. 

Dieser Ort ist seitdem ereignislos und wäre es geblieben. Eventkultur jedoch besagt, dass da, wo etwas ist, auch etwas stattfinden muss: deswegen lädt man ein zu Römerfesten, Germanen-und-Römerfesten, Römischen Tagen, „Schwerter, Brot und Spiele“. Die gerade noch rechtzeitige Auffindung des Schlachtfelds vor der Expo 2000 und dem 2000-Jahre-Jubiläum der Clades Variana platzierte das Museum/den Park Kalkriese gerade dahin, wo sie jetzt sind, der Überlebensinstinkt lässt die weiteren geschichtlichen 2000-Jahre-Jubiläen als interessante Fixpunkte für mehr Besucherstrom definieren: die Überlieferung der „Rachefeldzüge“ des Germanicus z. B., 14 bis 16, also nehmen wir mal 15. Und dann heißt der Kerl auch noch „Germanicus“. Wenn das mal nicht zieht.

Also werden Römergruppen von überall her eingeladen – die Legio I Italica machte wohl das beste Rundum-Glücklich-Angebot und lieferte drei Dutzend Legionäre plus ausreichend Offiziers-Überbau und „Germanicus“ selbst, dazu (offensichtlich) Programmvorschläge und eingängige lateinisch-italienische Marschgesänge, zu deren Melodie die Frauen in unserem Lager sogar später ihre eigenen Texte dichteten. Aus Deutschland kamen ein paar andere Römergruppen wie die knallharte Rapax, die luxuriösen Prätorianer und eine merkwürdige Gruppe um einen in badinstallationschromblinkenden Muskelpanzer gehüllten „Boss“ einer 19. Legion (die zumindest für diesen Event auferstanden ist – aber na ja, die Rapax wurde erst später gegründet). Aus Deutschland kamen auch die freundlichen und gut gelaunten Germanen verschiedener Gruppen; diese stellten in punkto Ausstattung, Spielfreude und Anmutung alle Römer in den Schatten. Ergänzt wurde das Aufgebot durch eine kleine Handvoll römischer Spezialisten – Handwerker, Ärzte, Kunsthandwerker – die sich in dem Gerappel und Geschepper teilweise etwas verloren vorkamen, aber immerhin die Chance auf etwas Wissensvermittlung hatten.

Das Programm zeigte viele interessante Punkte, deren Koordination und Einübung im Vorfeld und vor Ort vernachlässigt wurden. Ach, wir hätten Holzwaffen mitbringen sollen? Und Geschenke für Germanicus? Und ausgerechnet die Mail mit der Bestellung von Stroh und Brennholz kam nicht durch? Zum Glück gab es vor Ort eine aufgeweckte junge Frau auf einem Fahrrad, welche sich um die Notwendigkeiten kümmerte. Und trotzdem: wenn Abends die Toiletten im Lager geschlossen werden und die „Aufpasser“ vom Wachdienst sich nur um die Fressbuden kümmern, wenn keine reservierten Parkplätze ausgewiesen sind und die letztlich zugewiesenen vom Gelände abgeschlossen werden, zeigt das eine an Fahrlässigkeit grenzende Gleichgültigkeit, wenn nicht sogar Verachtung, gegenüber den Teilnehmern. Selbstverständlich kann man dem Konzept von „Living History“ skeptisch gegenüberstehen und es sogar nicht mögen. Gerade bei dem düsteren, tragischen Schlachtfeld der Clades Variana kann ich das verstehen. Aber dann sollte man kein Living History Event organisieren – oder, wenn die Übertragung der Organisation an Profis nicht möglich ist, zumindest sachkundige Berater hinzuziehen Ein jovialer Moderator mit Mikro reicht da nicht.

„Germanicus kommt“ fiel nicht ins Wasser – das ist dem überraschend guten Wetter zu verdanken – und die Besucher kamen voll auf ihre Kosten – das verdanken sie der Professionalität und Spielfreude der meisten Teilnehmer. Sie haben jetzt ganz sicher gelernt, dass römische Legionäre braune Schafsfelle auf ihren Schultern tragen wie die Männer der Nachtwache in „Game of Thrones“, dass Germanen immer hinter Wällen sitzen und dass man, um Centurio zu werden, eine heisere Stimme braucht wie Tom Waits. Sie wissen jetzt Bescheid, dass es überall lukanische Würstchen gab, dass man die ganze Zeit süßen Mulsum trank und zwar aus Hörnern. Natürlich gab es auch Besucher, die näher herankamen, interessierte Fragen stellten und wirklich etwas über römisches Leben und Kultur lernten, aber einigen war die sichtliche Überforderung zwischen den Polen von „Kunst“ des Parks, „Show“ der Soldaten und Germanen und „Living History“ in den Lagern anzumerken, ganz zu schweigen vom „Kirmes“ Aspekt der (gut bewachten) Fress- und Unterhaltungsmeile. 

Und insofern wurde dann der Kalkriese-Event trotz alledem noch authentisch: wir sehnten uns alle zurück nach „Vetera“, nach Xanten, nach dem APX. So gesehen ist auch Kalkriese nicht nur ein Ort der Erinnerung, sondern auch der Sehnsucht.